Der Königsweg
„Wofür stehst du, mein guter Philippe!“, fragte Johannes lächelnd.
„Für die Einsicht und die Erfahrung, dass der Mensch imstande ist, in sich einen Punkt zu finden, in dem er so stark steht, dass keine Gegenmacht sich hineinmischen kann.“
„Welcher Punkt?“
„Der Punkt, wo Denker und Gedanke eins sind, aber wo zugleich der Gedanke den Denker beleuchtet und der Denker den Gedanken anschaut. Es ist eine Einheit und zugleich die Möglichkeit zu objektiver Anschauung. Von da aus kann man die geistige Welt betreten, mit seinem Denken, seinem Fühlen und seinem Wollen – und man kann von da aus auch das tägliche Leben betreten, man lebt dann erfüllt von moralischer Intuition, von Güte – oder zumindest von Willen zum Guten. Wenn man sich in diesem Punkt in seinem Denken aufrechterhalten kann, dann kann man daraus alle materiellen Lebensgedanken beseitigen, und so erweitert das Denken sich zu einem Weben im Lichte des Kosmos, worin höhere Geistwesen sich denken können, während die eigene Willenskraft einem die Stabilität schenkt, diese Wahrnehmungen auch wirklich bewusst festzuhalten. Das ist der moderne Weg zu geistiger Erkenntnis, zur Hellsichtigkeit, wenn man es so nennen will. Das ist auch der richtige Beginn davon, der sicherste Zugang. Du weißt auch, dass gerade dieser mühsame Weg die allergrößten Gegenwirkungen hervorruft. Gegenargumente, Emotionalität, Widerstand. Das müssen wir einfach ertragen, es hängt nun einmal alles miteinander zusammen. Soweit habe ich es gebracht, soweit hast du es gebracht. Aber meine große Sehnsucht ist mit dem Finden dieses Punktes noch nicht befriedigt, wie du weißt.“
„Welche Sehnsucht?“
„Die Sehnsucht nach dem Ergründen des Tempel Gottes, des physischen Leibes. Das Finden jener Erkenntnis, nach der ein Arzt strebt, der Erkenntnis des Leibes, wie er in geistigem Sinne ist. Das Finden des Makrokosmos im Mikrokosmos, das Finden des Zusammenhanges der Leibesorgane mit dem Kosmos – des Sternenhimmel mit dem Leib. Das Gehen dieses Königsweges ist eine gemeinsame Aufgabe für uns, Johannes. Nicht für dich allein oder für mich allein, einzeln auf unserem Meditationsstuhl. Unsere Schicksalsverbundenheit macht es möglich, diese Erkenntnis gemeinsam zu gewinnen … und festzuhalten, übertragbar zu machen.“
„Wonach du strebst, ist gemäß dem Rosenkreuzerweg, wie wir ihn nach dem Vorbild des Meisters des Abendlandes gehen, die zweithöchste Stufe der Einweihung: der Zusammenhang von Mikrokosmos und Makrokosmos.“
„Aber, Johannes wir kommen von der anderen Seite. Denn wir haben im allerhöchsten Punkt begonnen, in dem Punkt, den ich gerade beschrieb: In der völligen Vereinigung mit Gott in dem Punkt, wo Denker und Gedanke eins sind und auch noch angeschaut werden können! Das „Denken über das Denken“ gibt die höchste Stufe der Einweihung, aber als einen Keim, noch nicht ausgewachsen. Dann schreitet man hinunter, den Punkt zu geistig-kosmisch-leiblicher Erkenntnis erweiternd.“
„So verläuft der Königsweg. Von den Gipfeln des „Mensch erkenne Dich selbst“ hinunter zur Erkenntnis des Leibes… „
Aus dem Roman Königsweg von Mieke Mosmuller, S. 323 ff. Occident Verlag 2014.